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Rucksäcke voller Geschichten

Wir haben unsere Geschichten in Rucksäcken um die ganze Welt getragen.
 
Gemeinsam haben wir ganze Regale in den Bibliotheken unseres Daseins mit unseren Geschichten gefüllt. Haben wortreich jeden Berg erklommen, wortgewaltig jedes Meer durchquert, jede Schnelllebigkeit mit unseren Geschichten zum Halten gezwungen, haben jede noch so rasanten Fahrt in der Zeitlupe unserer Worte mit Bildern geflutet. Jedes Loch, egal wie tief, unbedeutend wie dunkel, haben wir mir unseren Geschichten gemeinsam überwunden.
 
Wenn der Fluss zu breit schien, um ihn trockenen Fußes zu überqueren, waren unsere Rucksäcke voller Geschichten die fehlenden Steine, über die wir sicher zum anderen Ufer sprangen. 
 
So viele Geschichten trugen wir in unserem Gepäck. Unzählige Geschichten im Irgendwo, ins Nirgendwo, immerzu irgendwie und dennoch immerfort unaufhörlich zusammen. Volle Rucksäcke, die die Abdrücke ihrer Tragerienen auf unsere sonnenverwöhnten Schultern malten.
 
Wenn die Enge uns zu erdrücken schien, klemmten wir unsere Rucksäcke voller Geschichten in den rettenden Spalt, der uns einen Blick auf unsere Zukunft ermöglichte.
 
Gemeinsam schulterten wir unsere Rucksäcke voller Geschichten und wanderten zu den höchsten Gipfeln. Haben auf dem Plateau der hohen Berge unsere Geschichten ausgepackt und mit Bedacht auf die große Decke gelegt. Wie so oft wurden unsere Rucksäcke voller Geschichten im einsetzenden Regen zu unserem schützenden Unterschlupf und haben uns sicher ins Trockene gebracht. 
 
Wenn es dunkel wurde und unsere Glieder steif vor Kälte waren, haben wir aus unseren Rucksäcken wieder einmal Geschichten hervorgekramt, haben ihre Worte mit zittrigen Fingern doch erfahrener Hand glattgestrichen, sie mit unseren bebenden Stimmen zum Leben erweckt und sie uns geschenkt im flackernden Licht der alten Öllampe. Immer wieder. So konnten wir uns in ihrem Glanz wärmen. Zusammen.
 
Wenn die endlose Weite drohte, uns in Stücke zu zerreißen, waren es unsere Rucksäcke voller Geschichten, die uns jede angsteinflößende Kluft überwinden ließen. 
 
Nachts schliefen wir auf unseren Rucksäcken und betteten unsere Geschichten in den flauschigen Windungen unserer Gedanken. So trugen wir die Geschichten des anderen behutsam zu Bett. Ihre Worte deckten uns zu, so wie sich auch der Sternenhimmel des Nachts sanft über alles Gesagte legt.
 
Wenn die Nacht zu dunkel war und uns die Sicht nahm, waren unsere Rucksäcke voller Geschichten die Leuchttürme, um nicht an den gesichtslosen Klippen aus unbedeutenden Wortvorsrsprüngen zu zerschellen.
 
Aufgepasst haben wir immer auf unsere Rucksäcke voller Geschichten, um auch nicht die kleinste, noch so unbedeutend erscheinende Erzählung unseres Seins irgendwo unachtsam zurückzulassen. 
 
Wenn wir keine Antworten auf unsere vielen Fragen fanden, gaben unsere Rucksäcke voller Geschichten uns die sicheren Antworten, die wir so dringend brauchten.
 
Manchmal jedoch, wenn wir uns in den Armen lagen, wussten wir, dass es an der Zeit war, Geschichten wieder frei zu geben, sie gehen zu lassen. Wir wussten es war an der Zeit, Platz zu machen in unseren beladenen Herzen und übervollen Gedanken, wussten, dass wir endlich wieder Platz schaffen musste für neue, andere Geschichten auf fernen Berggipfeln, Platz für weitere Aussichten auf neuen Plateaus hoch über den Dächern unserer Welt. 
 
Einige unserer Geschichten reisten mit dem Wind. Andere trugen wir behutsam in den tiefen, schützenden Taschen unserer Rucksäcken wieder hinunter mit ins Tal. Wir breiteten sie erneut auf der Decke unter uns aus, bestaunten sie im Glanz der goldenen Abendsonne. Waren fasziniert von ihren Farben, Formen, von ihren Ausmaßen und Silhouetten, die im warmen Licht der sattgrünen Ebene unserer Seele so ganz anders wirkten als im gleißenden Silberllicht der hochstehenden Mittagssonne über den Bergen unseres Seins.
 
Mannchmal waren es der Geschichten so viele, dass auch ihr maßvolles Stopfen in unsere ausgebeulten Rucksäcken nichts half; oftmals verloren wir einfach einen Teil unserer lieb gewonnenen Geschichten irgendwo entlang unseres Weges. Wir merkten ihren Verlust erst, wenn unsere Gepäck leichter wurde. Und freuten uns dann, neue gemeinsame Geschichten mitnehmen zu können, waren glücklich, wieder neuen Platz für uns zu haben.
 
Und dann gab es diese Tage, voll von unzähligen kleinen Geschichten, die sich einfach nicht wie Perlen auf eine Schnur aufreihen ließen. Unendlich viele, die sich wie Sand in unseren Haaren, die sich wie winzig neckende Körnchen zwischen unseren Fingern, die sich wie lässtige Sandhügelchen in unseren ausgetretenen Wanderschuhen anfühlten. Sie zwangen uns zum Verweilen, Ausleeren, Abschütteln. Sie ließen uns erstaunt und verwundert zurück, wenn wir sahen, wie viele es waren. Unzählige unbedeutende, winzige Kurzgeschichten, flüchtig gesprochene Sätze, Wortfetzen, die sich - zusammengeschüttet auf einem Fleck - auf einmal als formvollendeter Geschichtenteppich auf unserem Weg ausbreiteten. 
 
Da standen wir, die Kartografen unserer Reise, wir, die Erzähler unserer Geschichten, die nur zusammengetragen an vielen Orten in ihrem Platz in unseren Rucksäcken einen Sinn für uns ergaben.
 
Unsere Rucksäcke, getragen oder abgelegt, sind voller Geschichten. Manche Geschichten haben wir auf halber Strecke verworfen, manch andere nicht zu Ende erzählt. Wie diese hier. Noch nicht zu Ende…
 
Sag mir bitte: Was nur kann ich tun, wenn unsere nicht erzählten Geschichten jetzt wie bittersüßer Mandelsirup vermischt mit Ozeanen aus dicken salzigen Tränen mir meine Stimmbänder verkleben?!
 
Sag mir bitte: Was nur kann ich tun, wenn unsere nicht erzählten Geschichten jetzt zusammen mit Dir und ohne mich auf ihre letzte stille Reise gehen? Fort von mir.
 
Aus Deinem Rucksack holst Du das letzte Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte. Deine endgültige Bewegung fräst eine furchterregende, unüberwindbare Kluft zwischen mein Heute und unser Gestern.
 
Fassungslos stehe ich an Deinem Grab, das in endlosen wiederkehrenden Schleifen betäubter und gelähmter Menschen mit klebrigen Lehmbrocken aus Worten zugeworfen wurden. Von Menschenketten, die Dir eine letzte Hand voll Abschied schenkten. 
 
Die Deinen Rucksack leerten, der doch gestern noch voll von unseren Geschichten war!
 
Diese unüberwindbare Kluft zwischen meinem Heute und unserem Gestern macht mich hilflos. Und alles was mir bleibt ist mein Rucksack voll unserer Geschichten. Ich halte ihn fest umschlungen. Ich fühle, wie er ganz langsam die Wunde meines Herzens notdürftig verarztet, die Blutung irgendwie stillt. Ich fühle, dass die Wunde wohl niemals heilen wird.
 
Worttropfen aus Tränen rinnen über mein Gesicht, das Du einst mit Deinen Geschichten zum Leuchten gebracht hast. Hast meine Geschichten zum Leben erweckt, als sie unsere wurden.
 
Ich stehe noch immer sprachlos an Deinem Grab mit den aufgehäuften Lehmbrocken aus Worten. Stehe Dir zu Füßen, blicke dort hin, wo ich Dein Gesicht vermute, kann es nicht sehen, vermisse Dich. Geräuschvoll tonlos, ohrenbetäubend schweigsam, in lärmender Stille. 
 
Ich krame in den Taschen meines alten Rucksacks, der noch immer schwer an unsere gemeinsamen Geschichten trägt. Krame und finde… Fingerspitzen voller Sand, die ich Dir zum Abschied schenke.
 
Bald schon wirst Du die Bibliotheken in einer anderen Welt füllen mit den Geschichten ohne mich. Und ich kann nicht anders als mich sehnen, sie alsbald dort lesen zu dürfen.
 
Ich weiß, heute Nach, in meinen Träumen, wirst Du die Türen zu Deinen Geschichten für mich öffnen, und Abertausende von Buchstaben als funkenden Sternenregen auf mich herunterprasseln lassen. Wirst meine Tränen als schillerndes Ölgemälde in Regenbogenfarben vor mir ausbreiten und mein einsames Sein mit Deinen vollen Worten malen.
 
Morgen schon, so weiß ich, wird ein Teil unserer Geschichten in neuen Rucksäcken auf anderen Schultern die Welt bereisen. Und sie werden von Dir, mir, uns und auch Euch erzählen.
Rucksäcke voller Geschichten
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